Gesundheit

Peter Franzkowiak , Klaus Hurrelmann

(letzte Aktualisierung am 14.06.2025)

Zitierhinweis: Franzkowiak, P. & Hurrelmann, K. (2025). Gesundheit. In: Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i023-2.0

Zusammenfassung

Lange Zeit galt Gesundheit in der Wissenschaft lediglich als Abwesenheit von Krankheit, reduziert auf das Fehlen körperlicher und psychischer Funktionsstörungen. Erst das Gesundheitsverständnis der WHO von 1948 brachte einen Paradigmenwechsel: Gesundheit wurde nun positiv als „Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ definiert. Die WHO-Definition hat drei Schlüsselmerkmale: positive Gesundheit, Ablösung von den engen Bezügen biomedizinischer Perspektiven und Versorgungssysteme, Mehrdimensionalität. Sie weist aber auch große Operationalisierungsprobleme auf. Neuere, interdisziplinär einsetzbare Definitionen orientieren sich am Modell der produktiven Realitätsverarbeitung. Sie betonen Balance, biografische Adaptation und Bewältigung. Ebenso wird der relativen und der funktionalen Gesundheit (nach ICF) eine wichtige Bedeutung zugemessen. Gesundheit muss in Zukunft als eigenständige, wissenschaftlich und versorgungspolitisch „starke“ Referenzkategorie etabliert und ausgebaut werden.

Schlagworte

Gesundheit, Klassifikationen, WHO-Definition, Multidimensionalität, Interdisziplinäre Gesundheitsdefinitionen, Modell der produktiven Realitätsverarbeitung, Funktionale Gesundheit, ICF, Gesundheitsförderung, Gesundheit als Referenzkategorie


Gesundheit ist kein eindeutig definierbares Konstrukt. Sie ist schwer fassbar und nur schwer zu beschreiben. Ebenso wie Krankheit wird Gesundheit individuell und sozial produziert und organisiert. Gesundheit ist ein relatives und relationales Phänomen, ein sozial verhandeltes Konstrukt, das vom jeweiligen kulturellen, gesellschaftspolitischen und ökologischen Kontext beeinflusst wird und sich dabei beständig erneuert (Nettleton, 2020; Faltermaier, 2023; Richter & Hurrelmann, 2023).

Frühere Versuche einer Definition und Klassifikation gingen fast immer von einer Opposition zum Begriff Krankheit aus. Der britische Medizinethiker und -philosoph Seedhouse (2001; siehe auch Naidoo & Wills, 2019, S. 46 ff.) benannte vier charakteristische wissenschaftliche Kernvorstellungen für Gesundheit:

  • Idealzustand mit völligem Wohlbefinden ohne jede körperliche, psychische und soziale Störung
  • persönliche Stärke, die auf körperlichen und psychischen Eigenschaften beruht
  • Leistungsfähigkeit zur Erfüllung von gesellschaftlichen Anforderungen, insbesondere von alltäglichen Rollenverpflichtungen
  • Gebrauchsgut (Ware), das hergestellt und „eingekauft“ werden kann.

Die Vorstellungen betrachten Gesundheit zwar aus unterschiedlichen Perspektiven, lassen sich aber noch nicht zu einem Gesamtbild verbinden. Franke (2012) und Faltermaier (2023) bemängeln, dass für Gesundheit bis heute keine allgemeingültige Definition für das gesamte interdisziplinäre Praxis- und Forschungsfeld vorliegt.

Allgemeine Ordnungsvorschläge

Der Medizinsoziologe Gerd Göckenjan entfaltete 1991 eine Systematik von drei dominanten Deutungsfigurationen:

  • Gesundheit als Abgrenzungskonzeptist eng mit der medizinischen Deutung und Diagnostik von Krankheit verknüpft (Biomedizinische Perspektive). Gesundheit wird als Abwesenheit von Krankheit, als noch nicht Krankheit oder als noch nicht vollständig medizinisch diagnostizierte körperliche/seelische Verfassung umschrieben. Die hierbei vorgenommene Abgrenzung von Gesundheit zu Krankheit ist häufig notwendig (etwa für eine Bescheinigung zur Arbeitsunfähigkeit oder Erwerbsminderung). Sie ist jedoch nur vordergründig konkret und gibt eine nur scheinbare Klarheit vor.
  • Als Funktionsaussage steht Gesundheit für Leistungs- und Arbeitsfähigkeit in körperlicher und sozialer Hinsicht bzw. als Rollenerfüllung (Soziologische Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit). Zu diesem Komplex gehören zudem alle homöostatischen Gesundheitsvorstellungen eines körperlich-seelischen Gleichgewichts (Salutogenese) und einer flexiblen Anpassung von Körper und Selbst an sich verändernde Umweltbedingungen (Systemisches Anforderungs-Ressourcen-Modell in der Gesundheitsförderung). Das Schwergewicht wird hierbei oft auf die Widerstandsfähigkeit von Menschen z. B. gegenüber Krankheitserregern und Infektionen gelegt. Auch die funktionsorientierten Umschreibungen sind nur in Teilen konkret; sie lassen sich eher als Metaphern deuten.
  • Gesundheitsdefinitionen enthalten auch ein Verständnis von Gesundheit als höchstem Wert und absolutem Richtwert. Daraus versuchen sich zum Teil Ansätze zu normativen Gesundheitszwängen und Optimierungspflichten zu rechtfertigen.

In der internationalen Debatte jüngerer Zeit finden sich inzwischen Ordnungsvorschläge, die stärker auf den Kontext einer Gesundheitsdefinition abheben. Dabei wird unterschieden zwischen allgemeinen, brückenbildenden Gesundheitsbegriffen (wie der WHO-Definition) und unterschiedlichen operationalen Definitionen. Letztere sind auf einen genau definierten Kontext bezogen und dienen dort für evidenzbasierte Mess-, Dokumentations- und Verlaufszwecke.

Die WHO-Definition

Von besonderer Bedeutung für die Gesundheitsförderung und zugleich die bekannteste wertorientierte Umschreibung ist die Präambel der Verfassung der WeltgesundheitsorganisationWHO von 1948: „Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen. Das Erreichen des höchstmöglichen Gesundheitsniveaus ist eines der Grundrechte jedes Menschen ohne Unterschied der ethnischen Zugehörigkeit [original: race], der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung.“ (WHO, 2020, S. 1 − eigene Übersetzung). Für diese Aussagen hat sich weltweit das Kürzel WHO-Gesundheitsdefinition eingebürgert.

Die WHO löste Gesundheit aus einer rein biomedizinischen Sichtweise und aus den engen Bezügen professioneller Krankheitssysteme. Gesundheit wird positiv definiert und multidimensional bestimmt. Sie umfasst körperliche, seelisch-geistige und soziale Anteile, die sich wechselseitig beeinflussen. Die WHO-Definition war auch ein ideengebender Vorläufer des paradigmatisch einflussreichen, erst Jahrzehnte später wissenschaftlich ausgereiften und weiterentwickelten biopsychosozialen Modells von Krankheit und Gesundheit. Das Prinzip der Mehrdimensionalität übertrug die WHO in der Folge auch auf die psychische Gesundheit (Mental Health).

Die deutsche Übersetzung spricht zwar von Gesundheit als „Zustand“; dies ist allerdings eine Verschiebung gegenüber dem englischen Originalbegriff (state). Nicht gemeint ist Gesundheit als statischer, einmal erreichter und dann unveränderlicher Zustand. Vielmehr ist sie zu sehen als ein dynamisches Stadium, als ein lebensgeschichtlich und alltäglich immer neu reguliertes Potenzial, als eine beständige und aktiv herzustellende Balance im Spannungsfeld zwischen Ressourcen und Belastungen.

Der Gesundheitsbegriff der WHO betont im Gegensatz zum biomedizinisch-naturalistischen Verständnis von Krankheit die Verankerung von Well-Being in allenDimensionen des täglichen Lebens (Wohlbefinden/Well-Being). Gesundheitsbewusste und -förderliche Lebensweisen/Lebensstile erfordern das Vorhandensein positiver politischer, kultureller, ökonomischer und sozialökologischer Grundvoraussetzungen (Determinanten der Gesundheit). Höchstmögliche Gesundheit ist ein Menschenrecht, ihre Erhaltung und Sicherung eine nationalstaatliche und zugleich weltgesellschaftliche Verpflichtung.

In den 1980-er Jahren wurde in Abschlussdokumenten zentraler WHO-Versammlungen die spirituelle Dimension hinzugefügt – allerdings ohne entsprechende Revisionen des grundlegenden Verfassungstextes von 1948. Die Diskussion um Spiritualität als vierter Dimension hat bis heute in der asiatisch-pazifischen Region und in den arabisch-islamischen Mitgliedsstaaten der WHO große Bedeutung und Ausstrahlung. Im europäischen und nordamerikanischen Raum wird sie (noch) weitgehend ausgeblendet.

Kritische Perspektiven, Herausforderungen und Weiterentwicklungen

Die WHO-Definition ist vielfach kritisiert worden. Hauptkritikpunkte sind die Einseitigkeit einer subjektiv akzentuierten Sichtweise, ihre ungenaue, kaum zu operationalisierende oder messbare Mehrdimensionalität und das noch unausgereifte, eher statische Denken in Polen. Ihr wurde oft ein dogmatischer Charakter, die Formulierung eines unerreichbaren Zustands unterstellt − in Verkennung der historisch-politischen Funktion und der unmittelbar unter dem Eindruck des zivilisatorisch verheerenden Zweiten Weltkrieges erstellten Formulierungen. Die Kritik konzentrierte sich zum einen auf den umstrittenen Begriff des „Zustands“, zum anderen auf die vermeintlich absolute Utopie eines „vollständigen“ oder „völligen“ Wohlbefindens. Kickbusch (1999) interpretiert das Streben nach „umfassendem Wohlbefinden“ zwar auch als universelle, positiv-utopische Aufforderung. Die Forderung sei jedoch zu lesen als verantwortungsethisches Postulat zur Herstellung und Sicherung von Gesundheit für alle Menschen – in Einheit mit der staatlichen Verpflichtung zu real gleichen Gesundheitschancen für Alle in einem Gemeinwesen und einer Nation.

Auf dem Hintergrund globaler Wandlungsprozesse sind allerdings definitionsimmanente Begrenzungen und epidemiologische Einschränkungen immer deutlicher geworden. Drei Problemcluster sind bedeutsam:

  • die weltweite Veränderung der Demografie von Bevölkerungen, die damit einhergehenden Herausforderungen von Gesundheitssicherung und Versorgung der Gesellschaften des langen Lebens (vielfach mit chronischer Einschränkung und lebensbegleitenden Behandlungspotenzialen in älteren Teilpopulationen)
  • eine tiefgreifende Umwälzung von Risiko- und Krankheitsmustern, der globale Wandel des gesundheitlichen Problempanoramas, zusätzlich die Ausweitung systemisch-professioneller Detektion, Behandlung und Begleitung
  • die strukturelle Bedeutung der sozialen und ökologischen Determinanten von Gesundheit und aller mit ihnen verbundenen Ungleichheiten und Gradienten

Es ist nicht zu übersehen, dass die WHO-Definition von Gesundheit Grenzen hat, wenn es darum geht, Gesundheit zu operationalisieren und für die klinische Medizin und Public Health-Forschungszwecke messbar zu machen. Ihre Stärke liegt primär darin, „über Determinanten von Gesundheit nachzudenken, also über Faktoren, die krank oder gesund machen, und über die dabei wirksamen Mechanismen. Die WHO-Definition lässt sich als gesundheitspolitische Vision verstehen, als ein für alle Menschen anzustrebendes Ideal.“ (Razum & Kolip, 2020, S. 21) Kickbusch (1999) insistiert, dass Gesundheit im Sinne der WHO-Formulierung nicht als Messgröße verstanden wurde und vielmehr ein „normatives Gut“ sei. Weder sei sie für Effizienzmessungen entwickelt worden, noch sei sie dafür tauglich.

Neue Gesundheitskonzepte können die verengten Formulierungen der WHO-Definition überschreiten, indem sie explizit anerkennen, dass auch Menschen mit chronischen Krankheiten und Einschränkungen gesund sein können. Die Betonung liegt dann nicht mehr auf umfassender bzw. „vollständiger“ Gesundheit (die zu oft als nicht nur unerreichbare, sondern auch ausgrenzende perfekte Gesundheit missinterpretiert wird). Im Zentrum stehen vielmehr alle Fähigkeiten und Ressourcen, unvermeidliche Herausforderungen des Lebens aktiv und produktiv zu meistern (siehe weiter unten die Ausführungen zu einer interdisziplinär tragfähigen Definition sowie zur funktionalen Gesundheit).

Trotz aller Einzelkritik nimmt die WHO-Definition wichtige integrative Aspekte auf und hat immer noch erhebliche Ausstrahlung in die Politik und vor allem in die Praxis von Prävention und Gesundheitsförderung (Naidoo & Wills, 2019; Ruckstuhl, 2020; Hurrelmann et al., 2024; Prävention und Krankheitsprävention). Auch für die medizinische und gesundheitswissenschaftliche Arbeit bleibt sie konzeptionell fruchtbar.

Neuere integrative und interdisziplinäre Gesundheitsdefinitionen

Seit Ende der 1980-er Jahre wurden aus Grundvorstellungen zentraler wissenschaftlicher Theorien Grundsätze für Module eines auch wissenschaftlich haltbaren und belastbaren Gesundheitsbegriffs abgeleitet (Hurrelmann & Richter, 2013). Dabei wurden biomedizinische Theorien, Lern- und Persönlichkeitstheorien, Stress- und Bewältigungstheorien, Interaktions- und Sozialstrukturtheorien sowie Public Health-Theorien gleichgewichtig aufgenommen und in das interdisziplinäre, sozialisationstheoretisch abgeleitete „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ integriert.

Zusammenfassend lassen sich acht interdisziplinär tragfähige Maximen von Gesundheit und Krankheit formulieren (Tab. 1):

1

Gesundheit und Krankheit ergeben sich aus einem Wechselspiel von sozialen und personalen Bedingungen, welches das Gesundheitsverhalten prägt.

2

Die sozialen Bedingungen (Gesundheitsverhältnisse) bilden den Möglichkeitsraum für die Entfaltung der personalen Bedingungen für Gesundheit und Krankheit.

3

Gesundheit ist das Stadium des Gleichgewichts, Krankheit das Stadium des Ungleichgewichts von Risiko- und Schutzfaktoren auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene.

4

Gesundheit und Krankheit als jeweilige Endpunkte von Gleichgewichts- und Ungleichgewichtsstadien haben eine körperliche, psychische und soziale Dimension.

5

Gesundheit ist das Ergebnis einer gelungenen, Krankheit einer nicht gelungenen Bewältigung von inneren und äußeren Anforderungen.

6

Persönliche Voraussetzung für Gesundheit ist eine körperbewusste, psychisch sensible und umweltorientierte Lebensführung.

7

Die Bestimmung der Ausprägungen und Stadien von Gesundheit und Krankheit unterliegt einer subjektiven Bewertung.

8

Fremd- und Selbsteinschätzung von Gesundheits- und Krankheitsstadien können sich auf allen drei Dimensionen − der körperlichen, der psychischen und der sozialen − voneinander unterscheiden.

Tab. 1: Acht Maximen für die integrative und interdisziplinäre Formulierung von Gesundheits- und Krankheitsdefinitionen (zitiert nach Hurrelmann & Richter, 2013, S. 139−146)

Von besonderer Bedeutung für die Gesundheitsförderung sind die Leitvorstellungen der sozialen und personalen Möglichkeitsräume, des Gleichgewichts und der Bewältigungsorientierung. Voraussetzung für Gesundheit sind Kompetenzen und Kapazitäten zur produktiven Auseinandersetzung mit den inneren und äußeren Anforderungen. Gesundheit ist nach dieser Definition gegeben, wenn sowohl körperliche und psychische Anforderungen als auch soziale und materielle Umweltanforderungen von einem Menschen im jeweiligen Lebensabschnitt produktiv bearbeitet und bewältigt werden. Zu den inneren Anforderungen gehören im biologischen Bereich die genetische Disposition, die körperlich-physiologische Konstitution, das Immunsystem, Nervensystem und Hormonsystem in ihrer jeweiligen Dynamik und Belastbarkeit, und im psychischen Bereich die Persönlichkeitsstruktur, Belastungsbewältigung/Resilienz bzw. Vulnerabilität und das Temperament.

Diese Anforderungen sind zugleich die Grundausstattung, mit der den äußeren Anforderungen begegnet werden muss. Zu jenen gehören die sozioökonomische Lage, das ökologische Umfeld, Wohnbedingungen, hygienische Verhältnisse, Bildungsangebote, Arbeitsbedingungen, private Lebensformen und die soziale Einbindung. Auch diese Anforderungen sind ihrerseits Ressourcen, die ein Mensch zur Verfügung haben muss, wenn er den inneren Anforderungen erfolgreich begegnen und die innere Realität aus Körper und Psyche ebenso produktiv verarbeiten will wie die äußere Realität aus sozialer und dinglicher Umwelt.

Aus diesen Überlegungen lässt sich die nachfolgende Definition von Gesundheit ableiten: „Gesundheit bezeichnet den Zustand des Wohlbefindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich psychisch und sozial in Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet. Gesundheit ist nach diesem Verständnis ein angenehmes und durchaus nicht selbstverständliches Gleichgewichtsstadium von Risiko- und Schutzfaktoren, das zu jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt immer erneut in Frage gestellt ist. Gelingt das Gleichgewicht, dann kann dem Leben Freude und Sinn abgewonnen werden, es ist eine produktive Entfaltung der eigenen Kompetenzen und Lernpotenziale möglich, und es steigt die Bereitschaft, sich gesellschaftlich zu integrieren und zu engagieren.“ (Hurrelmann & Richter, 2013, S. 147). „Zustand“ ist hier als ein dynamischer Zustand zu verstehen.

Zu den wichtigsten Elementen einer die Gesundheit fördernden und erhaltenden Lebensführung zählen positive Einstellungen zu den alltäglichen Herausforderungen, die Annahme des eigenen Körpers und der psychischen Grundausstattung einschließlich zeitweiser oder auch dauerhafter Beeinträchtigungen oder Einschränkungen. Außerdem optimistische Erwartungen an die soziale Umwelt und insgesamt die Vorstellung von der Beeinflussbarkeit der eigenen Lebensführung. In den Lern- und Entwicklungstheorien ist dieser Tatbestand mit dem Begriff der „Selbstwirksamkeit“ bezeichnet worden, in der salutogenetischen Theorie (Salutogenese) mit „Kohärenzgefühl“ (Sense of Coherence), in der Sozialisationstheorie (an der sich diese Gesundheitsdefinition orientiert) mit „produktiver Realitätsverarbeitung“. Wichtig ist die Verbindung von Selbstvertrauen mit bewusster Lebensführung, die auf Arbeit, Leistung, Anspannung und Rationalität gerichtet ist, sowie Genussfähigkeit, die auf Entspannung, angenehmes Essen und Trinken, Bewegung, Bindung, Liebe und erfüllte Sexualität zielt.

Analoge Definitionsversuche und Anschlussmöglichkeiten

Definitionen, die biografische Adaptation, Balance und Bewältigung im Rahmen sich beständig ändernder, systemisch komplexer Lebens- und Umweltherausforderungen in den Mittelpunkt rücken, finden sich auch bei folgenden Autorinnen und Autoren:

  • Huber et al. (2011; 2016): Gesundheit als dynamische Fähigkeit, mit sozialen, körperlichen und emotionalen Herausforderungen umzugehen und selbstbestimmt mit ihnen zu leben, angesichts lebenslanger sozialer, physischer und emotionaler Herausforderungen.
  • Bircher (2019): Im Meikirch-Modell wird Gesundheit als dynamischer Zustand des Wohlbefindens und als komplexes adaptives System verstanden, das Menschen in die Lage versetzt, den Anforderungen des Lebens zu genügen.
  • Krahn et al. (2021): Gesundheit als dynamisches Zusammenspiel von körperlichem, geistigem, sozialem und existenziellem Wohlbefinden bei der Anpassung an und der Bewältigung von (unvermeidlichen) Lebens- und Umweltbedingungen.

Weitere konzeptionelle Parallelen und Anschlussmöglichkeiten bestehen zu systemischen Gesundheitsdefinitionen (Hafen, 2014) und dem Holistic Model of Health (HMH) von Nordenfelt (2018) aus der theoretischen Medizin und Medizinphilosophie. Im HMH ist Gesundheit eine Funktion aller personalen Fähigkeiten und Kompetenzen. Sie ist eine der Voraussetzungen dafür, im jeweiligen kulturellen Rahmen und über sozialen Austausch absichtsvolle Handlungen auszuführen und eigene Ziele (Vital Goals) zu erreichen. Hier ergeben sich gerade für die Gesundheitsförderung Anknüpfungspunkte zum Konzept der Teilhabe- und Verwirklichungschancen (Human Capabilities-Ansatz). Darauf hat im deutschsprachigen Raum wegweisend der Sozialepidemiologe Abel (2021) hingewiesen (Verwirklichungschancen/Capabilities).Im HMH sind eingeschränkte Gesundheit oder chronische Krankheit keinesfalls ausgeschlossen, vielmehr durchaus kompatibel mit den Grundannahmen.

Ressourcenaspekt und soziale (Mit-)Bestimmtheit prägen das sozialepidemiologisch-gesundheitswissenschaftliche Konstrukt einer sozialen Gesundheit (Pfaff et al., 2011; neuer: Paul et al., 2023). Gesundheit wird hier als das Ergebnis individueller und kollektiver Ressourcenakkumulierung und -krisen angesehen. Sie entsteht (und wird erhalten) auf der Grundlage eines gelingenden Ressourcenaustausches zwischen Mensch und Gesellschaft. Krankheit gilt dagegen als Ergebnis von Ressourcenkrisen. Akkumulation wie Krisen der Ressourcen werden sozial beeinflusst und gesteuert. Somit ist Gesundheit immer auch ein Ergebnis gemeinschaftlichen Handelns. Der Begriff der sozialen Gesundheit soll explizit anzeigen, ob es den Akteuren und Akteurinnen und v. a. den Kollektiven gelingt, sowohl erfolgreich Ressourcenakkumulation und Ressourcensicherung zu betreiben als auch eine gerechte Ressourcenverteilung zu ermöglichen.

Relative, bedingte und funktionale Gesundheit

Gesundheit kann nicht nur optimal, umfassend oder positiv sein. Jedes Gesundheitskonzept muss die Bedingtheit und potenzielle Einschränkung von Gesundheit integrieren können (Gesundheits-Krankheits-Kontinuum). Menschen, die akute Störungen bewältigen oder mit chronischen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen leben, sind nicht ausschließlich krank. Sie haben im Umgang mit ihren Befindlichkeitsstörungen und Krankheiten sowie in ihrer Alltagsgestaltung immer auch gesunde Anteile (Kompetenzen und Ressourcen). Sie leben in relativer bzw. bedingter Gesundheit.

Relative Gesundheit ist das dynamische Stadium eines teilweise gestörten Gleichgewichts von Risiko- und Schutzfaktoren. Es tritt ein, wenn einem Menschen die Bewältigung von inneren und äußeren Anforderungen nur teilweise oder nur vorübergehend gelingt. In der Rehabilitation war lange der ähnlich angelegte Begriff der bedingten Gesundheit geläufig. Er umschreibt die Fähigkeit zur aktiven Lebensgestaltung, Leistungsfähigkeit in Beruf und Alltag auch mit chronischer Krankheit. Menschen mit einer chronischen Krankheit bzw. mit einer dauerhaften Einschränkung oder Beeinträchtigung sind bedingt gesund, wenn sie ein dynamisches Gleichgewicht finden, das ein sinnvolles Dasein und die Erreichung von Lebenszielen in Grenzen ermöglicht.

Die gegenwärtig dominierende fachliche Begrifflichkeit in diesem Kontext ist die funktionale Gesundheit. Sie ist Kernkonzept der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und hat große Bedeutung für die Rehabilitationsmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung.

Eine Person ist demnach − vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren − funktional gesund, wenn

  • ihre körperlichen Funktionen einschließlich des seelischen Bereichs und der Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen),
  • sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird (Konzept der Aktivitäten),
  • sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen).

Aufgrund des ihr zugrunde liegenden bio-psycho-sozialen Modells ist die ICF nicht primär defizitorientiert. Im Zentrum stehen – ressourcenorientiert, ätiologieneutral und auf der Grundlage eines Kontinuumskonzepts – die drei genannten interagierenden Komponenten von Gesundheit. Die ICF kann universell angewandt werden, d. h. auf alle Menschen bezogen, nicht nur auf Menschen mit Behinderungen oder Einschränkungen (Schuntermann, 2022).

Gesundheit als Referenzkategorie

Resümierend lässt sich feststellen: Angestoßen durch die bahnbrechende Neudefinition der Weltgesundheitsorganisation WHO im Jahr 1948 hat der Begriff Gesundheit seitdem an Konturen gewonnen und sich in der wissenschaftlichen Diskussion immer stärker verbreitet. Dennoch hat er es bisher nicht geschafft, sich als die führende Referenzkategorie durchzusetzen. Wenn es um die Bestimmung von körperlichen, psychischen und sozialen Befindlichkeiten eines Menschen oder einer Bevölkerungsgruppe geht, wird nach wie vor dominant der Begriff Krankheit eingesetzt – zumindest im deutschen Sprachraum.

Abel (2021) diagnostiziert eine nach wie vor bestehende Ohnmacht des Gesundheitsbegriffs. Diese sei gegeben, solange Gesundheit definitorisch und (versorgungs-)strukturell im Kontext der gesellschaftlichen Definitions- und Steuerungsmacht der Medizin verhandelt werde. Bis heute besitze der Gesundheitsbegriff keine hinreichende Eigenständigkeit. Vielmehr dominieren Krankheit (bzw. deren Abwesenheit) als Referenzgröße und die Medizin als Leitwissenschaft. Ein echtes Gleichgewicht der Begriffe sei weder in der Forschung noch in der Politik oder der Public Health-Praxis erreicht worden. Vielmehr erscheine Gesundheit „schwach und kontrovers definiert, als Leitparadigma ungeeignet“ (ebd., S. 35). Mit der Fokussierung auf Krankheit verfestige sich die Reproduktion der tradierten Machtverteilungen in Wissensproduktion, Prävention, Versorgung und Politik einseitig zugunsten biomedizinischer Paradigmen und Struktursicherungen.

Im Rahmen seiner Generalkritik würdigt Abel explizit die inter- und transdisziplinären Ansätze und Definitionsmaximen von Hurrelmann, Huber und Bircher (siehe oben), weil sie programmatisch ohne die Referenzgröße Krankheitauskommen. Zugleich wird Gesundheit als aktive, variable und multimodale Anpassungsleistung und Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen verstanden und operationalisiert. Zukünftig besteht die Notwendigkeit, Gesundheit als starke Referenzkategorie zu etablieren und auszubauen. Nur ein starker Gesundheitsbegriff liefert die „Voraussetzung für mehr Erkenntnisse zum Wohlergehen, der Lebensqualität und den Verwirklichungschancen der Menschen. (...) Gesundheit ist ein in sich multidisziplinäres und interparadigmatisches Unterfangen, denn die Determinanten der Gesundheit sind primär die sozialen Lebensbedingungen.“ (Abel, 2021, S. 36)

Literatur:

Abel, T. (2021). Der funktionale Gesundheitsbegriff – Reflexionen zwischen Theorie und Praxis der Gesundheitsförderung. Swiss Academies Reports (16), S. 33−36. Zugriff am 14.06.2025 unter www.sagw.ch/fileadmin/redaktion_sagw/dokumente/Publikationen/Berichte/2021_Macht_Medizin/12_Der_Funktionale_Gesundheitsbegriff.pdf

Bircher, J. (2019). Die verlorene Hälfte der Medizin: Das Meikirch-Modell als Vision für ein menschengerechtes Gesundheitswesen. Springer.

Faltermaier, T. (2023). Gesundheitspsychologie (v. a. Kapitel 5, S. 171−239). Kohlhammer.

Franke, A. (2012). Modelle von Gesundheit und Krankheit. Hogrefe.

Göckenjan, G. (1991). Stichwort Gesundheit. In H. U. Deppe (Hrsg.), Öffentliche Gesundheit − Public Health (S. 15−24). Campus.

Hafen, M. (2014). Mythologie der Gesundheit. Zur Integration von Salutogenese und Pathogenese. Carl Auer.

Huber, M. et al. (2011). How should we define health? British Medical Journal,343, d4163. https://doi.org/10.1136/bmj.d4163

Huber, M. et al. (2016). Towards a “patient-centred” operationalisation of the new dynamic concept of health: A mixed methods study. BMJ Open, 6(1), :e010091. https://doi.org/10.1136/bmjopen-2015-010091

Hurrelmann, K. & Richter, M. (2013). Gesundheits- und Medizinsoziologie. Juventa.

Hurrelmann, K. et al. (2024). Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. In K. Hurrelmann et al. (Hrsg.), Referenzwerk Prävention und Gesundheitsförderung (S. 23−34). Huber.

Kickbusch, I. (1999). Der Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation. In H. Häfner (Hrsg.), Gesundheit − unser höchstes Gut? (S. 275−286). Springer.

Krahn, G. L. et al. (2021). It's time to reconsider how we define health: Perspective from disability and chronic condition. Disability and Health Journal,14(2), 101129. https://doi.org/10.1016/j.apmr.2022.02.005

Naidoo, J. & Wills, J. (2019). Lehrbuch Gesundheitsförderung (Hrsg.: BZgA). Hogrefe.

Nettleton, S. (2020). The Sociology of Health and Illness. Wiley.

Nordenfelt, L. (2018). Functions and health: Towards a praxis-oriented concept of health. Biological Theory, 13(1), 10−16. https://philpapers.org/rec/NORFAH-2

Paul, J. et al. (2023). Social health: Rethinking the concept through social practice theory and feminist care ethics. BMJ Medical Humanities, 49(2), 1−8. https://doi.org/10.1136/medhum-2022-012535

Pfaff, H. et al. (2011). Elemente einer Theorie der sozialen Gesundheit. In T. Schott & C. Hornberg (Hrsg.), Die Gesellschaft und ihre Gesundheit (S. 39−68). Springer VS.

Razum, O. & Kolip, P. (2020). Gesundheitswissenschaften: Eine Einführung. In O. Razum & P. Kolip (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften. (S. 19−42). Beltz Juventa.

Richter, M. & Hurrelmann, K. (2023). Die soziologische Perspektive auf Gesundheit und Krankheit. In M. Richter & K. Hurrelmann (Hrsg.). Soziologie von Gesundheit und Krankheit (S. 1−19). Springer VS.

Ruckstuhl, B. (2020). Gesundheitsförderung – Entwicklungsgeschichte einer neuen Public-Health-Perspektive. Beltz Juventa.

Schuntermann, M. F. (2022). Einführung in die ICF. ecomed.

Seedhouse, D. (2001). Health: The foundations for achievement. Wiley.

WHO (2020). Constitution of the World Health Organization. In: Basic Documents, Forty-ninth edition (p. 1−19). WHO.

Internetadressen:

ICF: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Services/Downloads/_node.html

World Health Organization: www.who.int

Verweise:

Biomedizinische Perspektive, Determinanten der Gesundheit, Gesundheits-Krankheits-Kontinuum, Gesundheitsberichterstattung, Krankheit, Lebensweisen/Lebensstile, Prävention und Krankheitsprävention, Salutogenese, Soziologische Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit, Systemisches Anforderungs-Ressourcen-Modell in der Gesundheitsförderung, Verwirklichungschancen/ Capabilities, Wohlbefinden / Well-Being