Sexuelle Gesundheit

Johannes Breuer , Roswitha Piesch , Christoph Sonnefeld , Sara Scharmanski

(letzte Aktualisierung am 03.07.2025)

Zitierhinweis: Breuer, J., Piesch, R., Sonnefeld, C. Scharmanski, S. (2025). Sexuelle Gesundheit. In: Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.

https://doi.org/10.17623/BIOEG:Q4-i164-1.0

Zusammenfassung

Sexuelle Gesundheit ist ein zentraler Aspekt von Gesundheitsförderung und Prävention. Obwohl sexuelle Gesundheit sich aus den Menschenrechten ableitet und spätestens mit der 2002 durch die WHO vorgelegten Definition ein Fundament für viele Maßnahmen bildet, ist sie zunehmend ideologisch motivierten Angriffen ausgesetzt. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, sexuelle und auch reproduktive Gesundheit im Sinne der WHO in ihrer Bedeutung und Entstehung zu betrachten und ihre Konsequenzen für die Praxis herauszuarbeiten.

Schlagworte

Sexuelle Gesundheit, Psychische Gesundheit, Selbstbestimmung, Reproduktive Gesundheit


Sexuelle Gesundheit beschreibt in dem Ansatz der WHO, der in diesem Artikel im Zentrum steht, den Zustand des physischen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf Sexualität und wurzelt auf einem menschenrechtsbasierten Ansatz, der das Erleben von Sexualität sowie den Zugang zu Wissen dazu frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt beabsichtigt (vgl. WHO, 2006, S. 5). Sexuelle Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit und Funktionsstörungen; sie erfordert einen positiven und respektvollen Umgang aller mit Sexualität und sexuellen Beziehungen sowie die Möglichkeit, selbstbestimmt erfüllende und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen.

Dieser wirkmächtigen Definition können verschiedene (Teil-)Themen und Aktionsfelder zur Förderung der sexuellen (und mitunter reproduktiven) Gesundheit zugeordnet werden, die von der HIV-Prävention über den Schutz vor sexualisierter Gewalt bis hin zu ganzheitlicher Sexualaufklärung und dem Zugang zu faktenbasierten Informationen reichen (Bremer & Winkelmann, 2011). Dabei liefert die WHO auch Leitprinzipien für erfolgreiche Programme und Interventionen sowie konkrete Hinweise, wie Maßnahmen zur Förderung sexueller Gesundheit generell erfolgreich umgesetzt werden sollten (vgl. WHO, 2006, S. 20). Diese umfassen – auch mit einem spezifischen Blick auf Deutschland – haltungsrelevante Aspekte, etwa einen positiven Ansatz in Bezug auf Sexualität, statt eines Ansatzes, der auf Angst basiert. Dies spricht sowohl Lust als auch Sicherheitsaspekte von Sexualität und sexueller Gesundheit an und erkennt an, dass Sexualität zu jedem Menschen gehört und unterschiedliche Lebensbereiche wie Bindungsfähigkeit, Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung umfasst.

Trotz dieses umfassenden Ansatzes, der im Folgenden weiter konkretisiert wird, erweist sich die Umsetzung von Maßnahmen oft als schwierig, da sexuelle Gesundheit in der konzeptionellen Ausrichtung im Hinblick auf die rechtliche Verwurzelung sowie durch viele unterschiedliche Verantwortlichkeiten äußerst komplex ist. Hinzu kommen ideologisch motivierte Angriffe, die gerade in der letzten Dekade zunehmen.

Sexuelle Gesundheit – Hintergrund zur Entstehung des WHO-Ansatzes

2002 hat die WHO zusammen mit der World Association for Sexual Health, vormals World Association of Sexology (WAS) im Rahmen einer „Technical Consultation“ (WHO, 2006) die Definition sexueller Gesundheit überarbeitet. Während vormals sexuelle Gesundheit als nicht ausreichend definiert betrachtet wurde (es fehlten definitorische Konzepte sowie ein internationales Agreement (vgl. ebd., S. 4), galt es nunmehr auch, den Rahmenbedingungen in Gesundheitsförderung und Prävention, den gesellschaftlichen Strukturen und den individuellen Lebensweisen verstärkt Rechnung zu tragen (vgl. Edwards & Coleman, 2004). Um dies zu leisten, wurde auf Basis der Menschenrechte die oben bereits genannte Definition – es handelt sich streng genommen um eine Arbeitsdefinition, die vor allem politischen Dimensionen Rechnung trägt (vgl. Bremer & Winkelmann, 2011) – erarbeitet. Anhand länderspezifischer Beispiele, unterstützt durch Erfahrungen u. a. aus der Zusammenarbeit mit NGOs, wurden außerdem die exemplarisch genannten, grundlegenden Prinzipien entwickelt, die den Erfolg von Maßnahmen zur Förderung der sexuellen Gesundheit gewährleisten sollen.

Mit Blick auf diese konzeptionelle Fundierung und die praxisnahe Umsetzung von Maßnahmen liefern die Ergebnisse der „Technical Consultation“ (WHO, 2006) wesentliche Grundlagen, die auch noch nach über 20 Jahren aktuell sind und in unterschiedlicher Weise für Gesundheitsförderung und Prävention in diesem Themenfeld handlungsleitend sind.

Dennoch bleiben Herausforderungen bestehen: Der ganzheitliche Ansatz sexueller Gesundheit, der einen ressourcenorientierten Zugang, ein positives Verständnis von Sexualität sowie die explizite Anerkennung von sexueller Lust einbezieht, erscheint zwar überzeugend; er stößt jedoch gerade in der praktischen Umsetzung auf Schwierigkeiten und manifeste Widerstände, die die Förderung und Gewährleistung sexueller Gesundheit erschweren. Dies wird im Folgenden erläutert.

Konzeptionelle Herausforderungen: Sexuelle Gesundheit trifft reproduktive Gesundheit

Sexuelle Gesundheit, wie von der WHO vorgeschlagen, gründet auf einem menschenrechtsbasierten Ansatz. Bereits hierdurch eröffnen sich Bezüge zu anderen Konzepten – insbesondere zu reproduktiver Gesundheit. Auf internationaler politischer Ebene ist reproduktive Gesundheit der sexuellen Gesundheit übergeordnet: Im Rahmen der UN-Konferenz in Kairo wurde 1994 sexuelle Gesundheit als Teil reproduktiver Gesundheit definiert. Auch die Indikatoren des Nachhaltigkeitsziels 3.7 der WHO (UN 2015) erfassen primär Parameter der Reproduktion und Familienplanung.

Reproduktive Gesundheit fußt gemäß UN auf Menschenrechten und umfasst „die Anerkennung des Grundrechts aller Paare und Einzelpersonen, frei und verantwortungsbewusst über die Anzahl, den Abstand und den Zeitpunkt ihrer Kinder zu entscheiden und über die Informationen und Mittel dazu zu verfügen, sowie das Recht, den höchsten Zustand an sexueller und reproduktiver Gesundheit zu erreichen. Dazu gehört das Recht, Entscheidungen über die Fortpflanzung frei von Diskriminierung, Zwang und Gewalt zu treffen, wie es in Menschenrechtsdokumenten zum Ausdruck kommt.“ (UNFPA, 2014, S. 60, eigene Übersetzung).

Dieser Definition folgend betont auch die WHO 2002 bis heute den engen Bezug zwischen sexueller und reproduktiver Gesundheit – sie spricht häufig von „sexual and reproductive health“ (vgl. WHO, 2024). Für diesen engen Bezug sexueller und reproduktiver Gesundheit gibt es gute Gründe, zugleich bestehen konzeptionelle Spannungsfelder, die Konfliktpotenzial bergen.

Ein enger Bezug zwischen sexueller und reproduktiver Gesundheit ergibt sich bereits aus ihrer gemeinsamen Verankerung in den Menschenrechten, da beide Konzepte grundlegende Bedürfnisse adressieren. Dies betonend wird daher oft international von Sexual and Reproduktive Health and Rights (vgl. etwa UNFPA, 2019) gesprochen. Außerdem ist der sich in beiden Definitionen eröffnende Gesundheitsbegriff (Gesundheit) positiv und ressourcenorientiert. Nicht zuletzt gründet sich die enge Assoziation beider Begriffe auf mitunter identische Praxisfelder, wie beispielsweise der Ansatz der ganzheitlichen Sexualaufklärung (Comprehensive Sexuality Education) zeigt, also einer Herangehensweise, die über reine Biologie hinausgeht und auch soziale, emotionale und ethische Aspekte der Sexualität einbezieht (vgl. mit Blick auf deren Umsetzung in Europa und Zentralasien BZgA & IPPF EN, 2018).

Demgegenüber führt die enge Verknüpfung sexueller Gesundheit mit reproduktiven Rechten in konzeptionelle Schwierigkeiten, die Weiterentwicklungen erschweren und durch ihre Verallgemeinerung problematisch erscheinen: „Da die menschliche Fortpflanzung im Allgemeinen sexuelle Aktivität erfordert, sind sexuelle Rechte eng mit reproduktiven Rechten verknüpft.“ (WHO, 2006, S. 4, eigene Übersetzung). Statt das Recht auf Selbstbestimmung zu betonen – das beiden Konzepten zentral zugrunde liegt – wird ein teilweise biologisierender Zusammenhang hergestellt, der angesichts reproduktiver Möglichkeiten wie Reproduktionsmedizin oder Adoption als überholt erscheint und sexuelle Gesundheit stark an Fortpflanzung bindet.

Rechtliche Verortungen – ein komplexes Feld

Die Menschenrechtsbasierung von sexueller Gesundheit ist nicht der einzige rechtliche Bezug. Auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene gibt es vielfältige und teils sehr spezifische rechtliche Vorschriften mit Bezügen zu sexueller Gesundheit. Sie verfolgen unterschiedliche Ziele, die von einem Beitrag zur gesellschaftlichen Normbildung (etwa die strafrechtliche Verfolgung sexualisierter Gewalt) über die Initiierung und Absicherung einzelner Präventionsmaßnahmen (z. B. gesetzlicher Beratungsangebote) bis hin zu einer konkreten Gestaltung von Alltags- und Rechtsgeschäften (z. B. mit dem Antidiskriminierungsrecht) reichen können. Tab. 1 gibt einen Überblick zu ausgewählten rechtlichen Vorschriften, die im Hinblick auf sexuelle Gesundheit in Deutschland wichtig sind.

Familien- und Personenstandsrecht

Strafrecht

Asyl und Ausländerrecht

 
  • Eltern-Kind-Zuordnung und Abstammung (§§ 1591ff. BGB)
  • Regelungen zur Ehe, u.a. Eheverbote und sog. 'Ehe für alle' (§§ 1303ff. BGB)
  • Lebenspartnerschaftsgesetz
  • Selbstbestimmungsgesetz
  • Beurkundung von (vertraulichen) Geburten sowie Geschlechtseintrag (§§ 21, 22, 45b PStG)
  • Regelungen zur Behandlung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (§ 1631e BGB)
  • Sterilisation (§ 1631c, § 1830 BGB)
  • Regelungen zur Beschneidung des männlichen Kindes (§ 1631d BGB)
  • Pflegschaft für ungeborene Kinder (§ 1810 BGB)
  • Samenspenderregistergesetz
 
 
  • Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen
  • Sexueller Missbrauch (§§ 174ff. StGB)
  • Schwangerschaftsab-bruch (§§ 218ff. StGB)
  • Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174ff. StGB)
  • Doppelehe und doppelte Lebenspartnerschaft (§ 172 StGB)
  • Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB)
  • 'Upskirting' (§ 184k StGB)
  • Zwangsprostitution (§ 232a StGB)
  • Verbreitung pornografischer Inhalte (§§ 184ff. StGB)
  • Exhibitionistische Handlungen (§ 183 StGB)
  • Berücksichtigung geschlechtsspezifischer sowie gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Tatmotive bei der Strafbemessung (§ 64 StGB)
  • Verstümmelung weiblicher Genitalien (§ 226a StGB)
  • Embryonenschutzgesetz
 
 
  • Verfolgungsgründe, etwa hinsichtlich der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität (§ 3b AsylG)
  • Gesundheitsuntersuchungen, etwa auf HIV oder Hepatitis B (§ 62 AsylG)
  • Geeignete Maßnahmen zum Schutz von Frauen und schutzbedürftigen Personen in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften (§§ 44, 53 AsylG)
  • Familiennachzug (§§ 27 ff. AufenthG)
  • Polygamie und Ehegattennachzug (§ 30 Abs. 4 AufenthG)
  • Ausweisungsinteresse bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§ 54 AufenthG)
  • „Medizinische“ Abschiebungsverbote, ggf. bei HIV/AIDS (§ 60 Abs. 7 AufenthG)
 

Krankenversicherungsrecht (SGB V)

Soziales Recht (außer SGB V)

Weitere Vorschriften

 
  • Anspruch auf Krankenbehandlung, auch bei sexualitätsbezogenen Erkrankungen (§ 27 SGB V)
  • Anspruch auf ärztliche Beratung zur Empfängnisverhütung und Verordnung von empfängnisregelnden Mitteln (§ 24a SGB V)
  • Leistungen bei Schwangerschaftsabbruch und zur Sterilisation (§ 24b SGB V)
  • Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft (§§24c ff. SGB V)
  • Leistungen zur künstlichen Befruchtung (§ 27a SGB V)
  • Leistungen zur Verhütung übertragbarer Krankheiten, insb. Schutzimpfungen (§ 20i SGB V)
  • Anspruch auf Beratung und Versorgung zu Präexpositionsprophelaxe (§ 20j SGB V)
  • Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Besonderheiten bei den Leistungen der Krankenkassen (§ 2b SGB V)
 
 
  • Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen, Jungen und TIN*-Personen in der Kinderund Jugendhilfe (§ 9 SGB VIII)
  • Beratung und Unterstützung bei Vaterschaftsfeststellung (§ 52a SGB VIII)
  • Sozialhilfe zur Familienplanung (§ 49 SGB XII)
  • Sozialhilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft (§ 50 SGB XII)
  • Sozialhilfe bei Sterilisation (§ 51 SGB XII)
  • Adoptionsvermittlung und Verbot von Ersatzmuttervermittllung (AdVermiG)
  • Mutterschutzgesetz
 
 
  • Aufklärung und Beratung zur Verhütung und Familienplanung (§§ 1ff. SchKG)
  • Schwangerschaftskonfliktberatung und Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen (§§ 12ff. SchKG)
  • Verbot von sog. Gehsteigbelästigungen (§ 13 SchKG)
  • Vertrauliche Geburt (§§ 25ff. SchKG)
  • Beratung und Untersuchung zu STI (§19 IfSG)
  • Antimissbrauchsbeauftragtengesetz
  • Prostituiertenschutzgesetz
  • Rehabilitierung und Entschädigung wegen homosexueller Handlungen verfolgter Personen sowie benachteiligter Soldat*innen (StrRehaHomG, SoldRehaHomG)
  • Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
  • Unterbleiben von Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht und sexueller Identität in Betrieben und Behörden (§75 BetrVG, §62 BPersVG)
 

Tab. 1: Ausgewählte deutsche Bundesgesetze mit Bezug zu sexueller und reproduktiver Gesundheit (eigene Darstellung)

Wie in Tab. 1 deutlich wird, existiert im Bereich sexueller Gesundheit eine Vielzahl an Vorschriften in verschiedenen Rechtsgebieten, die stets bei der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung mitgedacht werden müssen: Einerseits können Rechtsvorschriften Präventionsmaßnahmen legitimieren und verbindlich systematisch verankern (z. B. §1631e BGB hinsichtlich des Schutzes von intergeschlechtlichen Kindern oder §19 IfSG hinsichtlich Angebote der Gesundheitsämter bezüglich sexuell übertragbarer Infektionen). Andererseits können sie auch Hürden oder Barrieren für Interventionen darstellen (z. B. historisch hinsichtlich § 175 StGB, der nicht nur sexuelle Handlungen zwischen Männern bestrafte, sondern durch Stigmatisierung und Diskriminierung auch Maßnahmen zur Gesundheitsförderung indirekt erschwerte). Bestehende Rechtsvorschriften prägen die Lebensbedingungen und individuellen Handlungsmöglichkeiten jedes Einzelnen, was die Teilnahme an Präventions- und Beratungsangeboten miteinschließt. Auch deshalb sind diese Gesetze oft auch Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Aushandlungsprozesse, was sich beispielsweise auf dem Gebiet des Familienrechts (z. B. in Bezug auf das Selbstbestimmungsgesetz oder die „Ehe für alle“) beobachten lässt.

Präventionsmaßnahmen im Feld der sexuellen Gesundheit müssen damit nicht nur sensibel und offen für verschiedene gesellschaftliche Meinungen und Positionen sein. Auch ihre rechtlichen Rahmenbedingungen sind Ausdruck vielfältiger gesellschaftlicher Interaktionsprozesse und Machtverhältnisse. Sie können sich stets ändern. Zugleich wird deutlich, dass sexuelle Gesundheit verschiedene Rechtsgebiete und Politikfelder berührt und damit ganz unterschiedliche Akteurinnen und Akteure einschließt. Sexuelle Gesundheit ist deshalb ein Paradebeispiel für den Health-in-all-Policies-Ansatz (Gesundheit in allen Politikfeldern/Health in all Policies [HIAB]): Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention sind nur wirksam, wenn alle Beteiligten intersektoral und über die Grenzen des eigenen Fachgebietes auf allen föderalen Ebenen hinweg zusammenarbeiten.

Strukturelle Verankerung – Wer macht was?

Die konzeptionelle und juristische Komplexität sexueller Gesundheit sowie die unterschiedlichen Bezüge zur reproduktiven Gesundheit spiegelt sich auch in den vorherrschenden Strukturen, insbesondere im Bereich Gesundheitsversorgung, wieder: International beschäftigt sich eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren (z. B. Joint United Nations Programme on HIV/AIDS [UNAIDS], United Nations Population Fund [UNFPA], United Nations Children’s Fund [UNICEF]) mit dem Thema sexuelle Gesundheit bzw. einzelnen Aspekten davon.

In Deutschland können die folgenden zentralen Akteurinnen und Akteure je nach Aufgabengebiet und Ebene differenziert werden:

  • Bundesregierung/Bundesverwaltung/Bund: Der Bund setzt verschiedene Aufgaben im Hinblick auf sexuelle Gesundheit um, die teils in Aktionsprogrammen, Nationalen Aktionsplänen oder Bundesstrategien verortet (vgl. z. B. BMG & BMZ, 2016), teils aber auch gesetzlich verankert sind. Das Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) oder das Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen (KonvBehSchG) sind Beispiele dafür: die Umsetzung der gesetzlichen Aufträge sind im Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG), der ehemaligen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), als nachgeordneter Behörde verortet.
  • Träger, Verbände, Selbsthilfe und NGOs: Teils im Zusammenhang mit gesetzlichen Aufträgen, insbesondere mit dem Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten, existieren viele Träger, Verbände und NGOs, die von Bundesebene über Länder bis in Kommunen organisiert sind. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Förderung sexueller Gesundheit und setzen in vielfältiger Weise Maßnahmen um, insbesondere in der Beratung und der Bildungsarbeit sowie in der Qualifizierung. Die Angebote richten sich oft an die Gesamtbevölkerung, einzelne Maßnahmen adressieren aber auch vulnerable Gruppen. Daneben sind Bundes- und Landesverbände politisch aktiv und begleiten etwa die Erstellung von Aktionsprogrammen der Regierung sowie deren Umsetzung.
  • Forschung und Monitoring: Forschung und Monitoring wird in Deutschland auf dem Gebiet der sexuellen Gesundheit sehr unterschiedlich wahrgenommen. Neben Aufgaben, die durch staatliche Einrichtungen wie dem Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) und dem Robert Koch-Institut (RKI) erfüllt werden, gibt es vielseitige Forschung an zahlreichen Hochschulen und Instituten. Des Weiteren gibt es Forschung, die durch NGOs erfolgt, teils mit staatlicher Unterstützung. Auch die Bundesländer leisten Beiträge zur Forschungsförderung, sodass sich die föderale Struktur auch im Bereich der Forschung widerspiegelt.
  • Internationale Zusammenarbeit: Die internationale Zusammenarbeit wird in Deutschland vor allem durch das Auswärtige Amt (AA) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit dem nachgelagerten Bundesunternehmen „Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit“ (GIZ) wahrgenommen. Es bestehen zudem multinationale Strukturen wie das WHO-Kollaborationszentrum für sexuelle und reproduktive Gesundheit im BIÖG, die europäische Zusammenarbeit verschiedener Ministerien bzw. Behörden mit dem European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) oder themenspezifische Joint-Actions und weitere Förderungsprogramme.
  • Versorgung: Die Versorgung ist in Deutschland stark lokal geprägt, wenngleich sie sich auch an bundesweiten Vorgaben orientiert, die etwa der Bund und die Krankenversicherungen über den Gemeinsamen Bundesausschuss (GB-A) zusammen erarbeiten. Weitere zentrale Gremien sind etwa die Ständige Impfkommission (STIKO) im Hinblick auf impfpräventable sexuell übertragbare Infektionen (STI). Durch die grundlegend lokale Prägung der Versorgung wird es ermöglicht, Gesundheitsförderung in spezifischen Settings und Lebenswelten konkret und bedarfsgerecht zu gestalten sowie intersektorale Netzwerke vor Ort zu stärken. Auf kommunaler Ebene sind – neben Gesundheitsämtern und niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, Therapeutinnen und Therapeuten sowie Klinken – auch viele NGOs und Beratungsstellen im Bereich der sexuellen Gesundheit tätig, oft in der Prävention, der Unterstützung und der Versorgung, unter anderem im Kontext von HIV-Prävention und sexueller Bildung.
  • Bildung/Schule: Bildung, insbesondere schulische Bildung, liegt in Deutschland im Verantwortungsbereich der Bundesländer. In allen Lehrplänen sind Themen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit verbindlich verankert. Damit leisten Schulen einen wesentlichen und zuverlässigen Beitrag zur sexuellen Bildung und Gesundheitsförderung. Weitere Bildungsangebote werden – teils mit Förderung durch den Bund, die Bundesländer oder Kommunen – von Verbänden und NGOs umgesetzt.
  • Beratung: Beratungsstrukturen sind in Deutschland äußerst divers und können von NGOs und Verbänden über Kommunen und Länder bis hin zum Bund reichen. Sie clustern sich dabei entlang einzelner Teilgebiete der sexuellen Gesundheit (z. B. sexuelle Gewalt, HIV-/STI-Beratung), zum Teil bestehen aber auch übergreifende Beratungsangebote, in denen viele Aspekte sexueller und reproduktiver Gesundheit vereint sind (z. B. Schwangerschaftsberatung und sexuelle Bildung). Die Beratungsstruktur – zumindest der Schwangerenberatung – ist hierbei auch im internationalen Vergleich einzigartig, wobei ihre Diversität dem Subsidiaritätsprinzip der Bundesrepublik entspricht.

Diese Strukturen sind historisch gewachsen, da in der Vergangenheit meist nur bestimmte Themen oder Zielgruppen im Fokus standen – etwa die zahlreichen Angebote zur HIV-Prävention, die stark von Gesundheitsämtern und lokalen Aidshilfen geprägt sind. Hier zeichnet sich jedoch ein Wandel hin zu ganzheitlichen Perspektiven ab.

Ein wichtiger Meilenstein war in diesem Zusammenhang die Durchführung der Studie „Gesundheit und Sexualität in Deutschland“ 2018/2019, die auf Basis des WHO-Verständnisses von sexueller Gesundheit eine holistische und datenbasierte Perspektive ermöglicht hat (Briken et al., 2021). Sie gibt mit ihrem ganzheitlichen Ansatz neue Impulse für Forschung und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention. Ähnlich wie bei anderen Repräsentativbefragungen − etwa der Jugendsexualitätsstudie der BZgA (vgl. Scharmanski/Hessling, 2021) − ist damit ein Monitoring auch für die erwachsene Bevölkerung möglich und von großer Bedeutung, um die Gesundheitsförderung zu verbessern und Maßnahmen gezielt steuern zu können.

Sexuelle Gesundheit – ein kontroverses Konzept?

Während sexuelle Gesundheit ein zentrales Konzept sowie intersektoral und lokal verankert ist und konzeptionell Erweiterungspotenziale verspricht, ist es zunehmend ideologisch motivierten Angriffen ausgesetzt. Konservative, rechte und auch fundamentalistisch-religiöse, antifeministische, frauenfeindliche und/oder queerfeindliche Gruppen (EPF, 2021) stellen öffentlichkeitswirksam das menschenrechtsbasierte Konzept an sich und die daraus abgeleiteten Maßnahmen in unterschiedlicher Ausprägung in Frage. Dies verhindert nicht nur Weiterentwicklungen, sondern übt auch massiven Rechtfertigungsdruck aus. Dadurch wird es zunehmend erschwert, Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention im Bereich sexueller Gesundheit umzusetzen und das Menschenrecht auf sexuelle Gesundheit für alle Menschen zu gewährleisten. Umso wichtiger ist es, das Konzept als solches in seiner Genese zu betonen, die Vernetzung auf allen föderalen Ebenen weiter voranzutreiben und die Evidenzbasierung von Maßnahmen zu stärken.

Relevanz für die Praxis

Obwohl die WHO bereits 2002 mit ihrer Definition sexueller Gesundheit zentrale Grundlagen für eine wirksame Gesundheitsförderung im Bereich der sexuellen Gesundheit gelegt hat, bleibt die praktische Umsetzung mit erheblichen Herausforderungen verbunden. Zu nennen sind hier konzeptionelle, juristische und strukturelle Schwierigkeiten, aber auch die zunehmenden ideologisch motivierten Angriffe gegen entsprechende Maßnahmen zur Förderung der sexuellen Gesundheit.

Bei der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen sollten zentrale Fragen möglichst präzise geklärt werden, um den konzeptionellen Herausforderungen sexueller Gesundheit zu begegnen:

  • An wen sollen sich – auf Basis welcher Evidenzen – Maßnahmen richten?
  • Welche Zielgruppen sollen mit welchen Methoden erreicht werden?
  • Wie spezifisch oder umfassend sollen sie sein?
  • Inwiefern wird rechtlichen Rahmenbedingungen Rechnung getragen?
  • Wo ergänzen Maßnahmen andere?
  • Wo gilt es, Doppelangebote zu vermeiden und stattdessen Synergien zu nutzen?
  • Wie sind Angebote, etwa im Bereich Bildung oder Versorgung, verortet?

Diese Fragen verdeutlichen: Für die effektive Umsetzung von Maßnahmen im Bereich sexueller Gesundheit braucht es einerseits ein fundiertes Verständnis bestehender Strukturen und rechtlicher Rahmenbedingungen – und andererseits eine strategisch durchdachte Positionierung innerhalb unterschiedlicher institutioneller Kontexte, Settings und Zielgruppen.

Zum anderen ist aus Praxissicht hervorzuheben, dass ideologisch motivierte Angriffe auf gesundheitsbezogene Maßnahmen im Themenfeld der sexuellen Gesundheit zunehmen (vgl. EPF, 2021). Um diesen Entwicklungen wirksam zu begegnen, ist eine sachlich fundierte und strategisch abgestimmte Reaktion erforderlich. Maßnahmen zur Förderung sexueller Gesundheit sollten daher

  • konsequent evidenzbasierte Zugänge und Methoden nutzen,
  • Falschinformationen mit fachlich gesicherter Kommunikation entgegentreten,
  • die öffentliche Debatte aktiv mitgestalten,
  • durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und transparente Aufklärung für die Relevanz sexueller Gesundheit sensibilisieren,
  • die Zusammenarbeit und Vernetzung relevanter Akteur*innen stärken,
  • sowie sektorübergreifend – insbesondere mit Bildung, Gesundheit, Politik und Zivilgesellschaft – kooperieren.

Fazit

Sexuelle Gesundheit ist ein zentrales – und überaus komplexes – Handlungsfeld in der Gesundheitsförderung. Dabei kann nur durch eine präzise fachliche und strategische Ausrichtung sichergestellt werden, dass Maßnahmen passgenau auf ihre jeweiligen Zielsetzungen abgestimmt und dadurch wirksam sind. Außerdem kann das Konzept ein Instrument sein, um den zunehmenden Angriffen auf Maßnahmen im Themenfeld entgegenzuwirken, denn mit Kenntnis der rechtlichen, strategischen und institutionellen Rahmungen, der Genese des Konzepts und seiner Evidenzbasierung lassen sich jene Angriffe zum Teil abwehren.

Literatur:

BMG & BMZ – Bundesministerium für Gesundheit & Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2016). Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragbaren Infektionen. Beschluss des Bundeskabinetts vom 6. April 2016. Zugriff am 31.01.2025 unter www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Praevention/Broschueren/Strategie_BIS_2030_HIV_HEP_STI.pdf

Bremer, V. & Winkelmann, C. (2011). Sexuelle Gesundheit in Deutschland – Ein Überblick über existierende Strukturen und Verbesserungspotential. Sexuologie, 19(3–4), 93−104. Zugriff am 31.01.2025 unter www.sexuologie-info.de/artikel/2012.34.17.pdf

Briken, P., Dekker, A., Cerwenka, S., Pietras, L., Wiessner, C., von Rüden, U. & Matthiesen, S. (2021). Die GeSiD-Studie „Gesundheit und Sexualität in Deutschland“ – eine kurze Einführung. Bundesgesundheitsblatt, 64(11), 1.334−1.338. https://doi.org/10.1007/s00103-021-03433-7  

BZgA & IPPF EN – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung & International Planned Parenthood Federation European Network (2018): Sexuality education in Europe and Central Asia. State of the art and recent developments. An overview of 25 countries. Zugriff am 31.01.2025 unter www.bzga-whocc.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/BZgA_ComprehensiveCountryReport_EN.pdf

Edwards, W. & Coleman, E. (2004). Defining sexual health: a descriptive overview. Archives ofSexual Behaviour, 33(3), 189−195. https://doi.org/10.1023/B:ASEB.0000026619.95734.d5

EPF − European Parliamentary Forum for Sexual & Reproductive Rights (2021). Die Spitze des Eisbergs: Religiös-extremistische Geldgeber gegen Menschenrechte auf Sexualität und reproduktive Gesundheit in Europa 2009–2018. Zugriff am 31.01.2025 unter www.epfweb.org/sites/default/files/2022- 02/EPF_EN_TOTI_9SEP%20DEF_%20DEU_FINAL.pdf

Ferguson, L. & Desai, S. (2018). Sexual and reproductive health and rights for all: translating the Guttmacher-Lancet Commission’s global report to local action. Reproductive Health Matters, 26(52), 6–7. https://doi.org/10.1080/09688080.2018.1487621

Scharmanski, S. & Hessling, A. (2021). Sexual- und Verhütungsverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Aktuelle Ergebnisse der Repräsentativbefragung “Jugendsexualität”. Bundesgesundheitsblatt, 64(11), 1372-1381. doi.org/10.1007/s00103-021-03426-6

Starrs, A. M., Ezeh A. C., Barker G. et al. (2018). Accelerate progress – sexual and reproductive health and rights for all: report of the Guttmacher-Lancet Commission. Lancet 391, 2.642–2.692. https://doi.org/10.1016/s0140-6736(18)30293-9

UN – United Nations (2015). Transforming our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development, A/RES/70/1. Zugriff am 31.01.2025 unter https://sdgs.un.org/sites/default/files/publications/21252030%20Agenda%20for%20Sustainable%20Development%20web.pdf

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UNPF − United Nations Population Fund (2014). Programme of action of the international conference on population development. 20th anniversary edition. Zugriff am 31.01.2025 unter www.unfpa.org/sites/default/files/pub-pdf/programme_of_action_Web%20ENGLISH.pdf

WHO − World Health Organization (2006). Defining sexual health. Report of a technical consultation on sexual health 28−31 January 2002. Zugriff am 31.01.2025 unter www3.paho.org/hq/dmdocuments/2009/defining_sexual_health.pdf

Internetadressen:

GeSiD − Studie Gesundheit und Sexualität in Deutschland: https://gesid.eu

WHO-Kollaborationszentrum für sexuelle und reproduktive Gesundheit: www.bzga-whocc.de

WHO − World Health Organization (2024). Overview sexual and reproductive health and research (SRH). Zugriff am 31.01.2025 unter www.who.int/teams/sexual-and-reproductive-health-and-research-(srh)/overview

Verweise:

Gesundheit, Gesundheit in allen Politikfeldern / Health in All Policies (HiAP)